Menschen mit Beeinträchtigung zu einem unabhängigen und selbstbestimmten Leben zu verhelfen. Das steht bei Waltraud Engl und Petra Pinetz von Integration Wien auf der Tagesordnung. Gemeinsam unterstützen sie Familien, die Kinder mit Beeinträchtigung haben, bei Themen wie Schule oder Berufsausbildung.
In die Schule gehen oder eine Ausbildung beginnen? Selbstbestimmt Entscheidungen treffen – was selbstverständlich klingt, ist besonders für junge Menschen mit Beeinträchtigung schwierig. Integration beziehungsweise Inklusion Wien setzt sich für die unteilbare Integration von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft ein. Das tut der Verein durch Beratung, Begleitung, Assistenzangebote und Aufklärung. Begonnen hat alles in den 1980er-Jahren, als sich Eltern von Kindern mit Beeinträchtigung als Elternverein zusammengeschlossen haben, um sich dafür einzusetzen, dass ihre Kinder genauso leben lernen und sich frei entwickeln können wie alle anderen auch. Im Laufe der Zeit haben sich die motivierten Eltern dann mit Fachleuten zusammengeschlossen, bis schließlich die Beratungsstelle, wie sie heute existiert, entstanden ist. „Es war immer diese visionäre Ausrichtung, dass es in diesem Verein nicht darum gegangen ist, nach Form und Grad der Beeinträchtigung zu differenzieren, sondern unser Angebot ist für alle Menschen mit Beeinträchtigung“, klärt Waltraud Engl, Leiterin des Projekts „Elternnetzwerk“ und des Projekts „P.I.L.O.T“, auf. Ein ganzheitliches Angebot aufzubauen und die Familien vom Kindergarten in die Arbeitswelt bis hin zu Freizeitgestaltung und Wohnen zu begleiten – dem Team ist es besonders wichtig, Angebote für alle Lebenssituationen zu schaffen. Das Arbeiten auf Augenhöhe ist dabei der wichtigste Grundsatz. „Die Qualitätsmerkmale, die uns wirklich ausmachen, sind, dass wir ein Verein von und für Eltern sind. Der Vorstand ist nach wie vor mit Eltern besetzt und ehrenamtlich tätig. Wir bieten eine langfristige Beratung und Begleitung über mehrere Lebenslagen hinweg an. Die Angebote von ‚Integration Wien‘ sind immer aus den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen heraus entstanden, natürlich von den Eltern vertreten“, berichtet Pinetz, die die „VorSchulische Beratung“ leitet.
Schule für alle!
Die Anliegen, mit denen die Eltern zur Beratungsstelle kommen, sind vielseitig: Bildung, Ausbildung, Freizeit, Wohngestaltung. Ihnen dazu zu verhelfen, ein gleichberechtigtes Leben führen zu können, und ihnen so viel Selbstbestimmung wie möglich zu gewähren, ist der Dreh- und Angelpunkt der Arbeit von Waltraud Engl und Petra Pinetz. Konkret bedeutet das, dass sie telefonisch oder persönlich Familien beraten, dabei unterstützen, einen Kindergartenoder Schulplatz zu finden oder ihnen einen Überblick über Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten geben. Wenn gewünscht, begleiten sie Eltern auch zu Terminen und vermitteln zwischen Schulen und Familien. „So unterschiedlich die Kinder sind, so unterschiedlich sind auch die Fragestellungen, mit denen die Eltern bei uns andocken. Das ist das Spannende an dieser Tätigkeit – man hat sein Themengebiet, aber man weiß nie: Wer ruft an? Wer dockt an? Wer kommt neu dazu?“, erzählt Petra Pinetz über den Reiz ihrer Arbeit. Beim Thema „elementare Bildung“ geht es meist darum, freie Kindergarten- oder Schulplätze zu finden, von denen es, gerade für Kinder mit Beeinträchtigung, zu wenige gibt. Der Wunsch der Eltern, dass ihre Kinder einen Kindergarten sowie eine Schule für alle besuchen, ist groß.
„Es docken Eltern an, die sich für einen integrativen Weg entscheiden, die für ihre Töchter und Söhne wollen, dass sie gemeinsam mit anderen Kindern leben, lernen, spielen, gemeinsam aufwachsen. Wir informieren die Eltern, welche gesetzlichen Möglichkeiten und Rechte es gibt“, erklärt Petra Pinetz. Individuelle Lösungen für das Kind zu schaffen, ist dabei das Wichtigste in ihrer täglichen Arbeit. Fakt ist laut der Expertin, dass Integrationsklassen im Vergleich zu Sonderschulen nicht dieselben Rahmenbedingungen und Möglichkeiten haben, um auf jedes Kind individueller einzugehen. Etwas, was die beiden Frauen bedauern.
Integration Wien in Bewegung
Stoßen sie in ihrer täglichen Arbeit auf ein neues Hindernis oder häufen sich gewisse Anliegen, setzt sich das Team dafür ein, neue Lösungsansätze zu finden. „Es geht darum, auf den Bedarf zu schauen und Lösungen anzubieten und zu entwickeln. So ist das Ganze auch immer in Bewegung – unsere Struktur ist eine sehr organische und lebendige“, klärt Waldtraud Engl lächelnd auf. Sie begleitet Jugendliche beim Übergang von der Schule in den Beruf. Im Pilotprojekt „P.I.L.O.T“ unterstützt sie Jugendlichen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf bei der Entwicklung ihrer persönlichen Zukunft. In der Praxis bedeutet das: Beschäftigung und Teilhabe am Arbeitsmarkt ermöglichen und inklusive Wochenstrukturen und tagesstrukturierende Aktivitäten schaffen.
„Wir wollen weg von dem Bild, dass eine Person eine Behinderung hat und dass diese auf ihr sitzt. Unsere Sichtweise ist: Ein Mensch kann eine Funktionseinschränkung haben und es wird erst zur Behinderung, wenn er auf eine oder mehrere Barrieren stößt. Man sollte dem Menschen primär als Mensch begegnen und dann schauen, welche Unterstützung er oder sie braucht“, sagt Waltraud Engl bestimmt. Im Gespräch merkt man, beide Frauen brennen für ihren Beruf. Auch wenn es Barrieren, für ihre Klientinnen und Klienten, aber auch für sie in ihrer täglichen Arbeit gibt, sehen sie meist das Positive. Die Kommunikation auf Augenhöhe macht sich besonders dann bemerkbar, wenn sie darüber sprechen, dass diese jungen Menschen Zeit ihres Lebens mit Begutachtungen, negativen Bewertungen und Befunden konfrontiert worden sind. Immer wieder hören sie, was nicht funktioniert und was vielleicht auch nie funktionieren wird. Das wollen sie in ihrer Tätigkeit bei Integration Wien ändern und fokussieren sich deswegen darauf herauszufinden, was die Kinder und Jugendlichen selbst möchten. Was einleuchtend klingt, ist für viele Menschen mit Beeinträchtigung aber keine Selbstverständlichkeit.
Menschen Menschen sein lassen und sie fördern und begleiten!
In all ihren Tätigkeitsfeldern finden es beide Frauen essenziell, dass ein Miteinander ermöglicht wird und keine Sonderkonstruktionen für Menschen mit Beeinträchtigung geschaffen werden. „Da muss man Menschen Menschen sein lassen und sie fördern und begleiten. Es ist ihnen zuzugestehen, zuzumuten und zuzutrauen, ohne neue Sondersysteme zu schaffen“, weiß Waltraud Engl. Besonders wenn es um die berufliche Entwicklung geht, sieht sie die starke Einbindung der Jugendlichen und das Herausstreichen der Selbstbestimmtheit als besonders wichtig an. Die Realität ist: Das Schulsystem hört schlagartig auf und viele Familien sind dann mit der Maßnahmenlandschaft überfordert. Hier einen Überblick zu schaffen und durch das „wunderschöne Bild mit bunten Kasterln einen individuellen Weg und individuelle Lösungen zu finden“, macht Waltraud Engl besonders viel Freude. Trotzdem stoßen die Expertinnen in ihrer täglichen Arbeit immer wieder auf Hindernisse. Unterkriegen oder frustrieren lassen wollen sich die beiden davon aber nicht.
„Inklusive Bildung ist ein Menschenrecht. Menschen mit Behinderung haben das Recht, gleichberechtigt an allen Lebensbereichen teilzuhaben. Die visionäre Ausrichtung des Vereins ist die Basis der Beratung: Eltern zu unterstützen und zu motivieren, auf die Stärken, die Interessen und die Fähigkeiten der Kinder zu schauen“, erzählt Petra Pinetz leidenschaftlich über ihre Motivation, in diesem Feld tätig zu sein. Besonders die Eltern in ihrem Expertenwissen zu bestärken, ist ihr dabei eine Herzensangelegenheit. Niemand kennt das Kind so gut wie die Eltern, betont sie. Die unterschiedlichen Sichtweisen und der intensive Austausch mit den Familien machen für sie ihre Arbeit dabei besonders spannend.
Kritische Selbstreflexion und Blick nach vorn
Stetige Weiterentwicklung und kritisches Reflektieren der Arbeit findet Waltraud Engl besonders wichtig. „Wir machen auch Fehler und das muss man aushalten. Das steht auch so in unseren Konzepten, dass wir uns auch erlauben, Fehler zu machen. Es niederzuschreiben ist nicht schwierig, aber es dann auch auszuhalten, ist eine Herausforderung. Wir sind ja alle nicht so gepolt, dass wir gerne Fehler machen“, erzählt sie lachend. „Mein Motor ist, dass ich durch diese intensive Auseinandersetzung mit den Menschen auch gefordert bin, verschiedenste Dinge zu hinterfragen. Dieses ‚Normale‘ gibt es für mich eigentlich nicht mehr: Man kann die Welt auch ganz anders sehen, Fragen ganz anders stellen und mit Situationen ganz anders umgehen.“ Immer wieder betonen beide, dass die Fähigkeiten, Ressourcen und Kompetenzen eines Menschen im Mittelpunkt stehen müssen, nicht seine Beeinträchtigung. Wenn es um die Frage geht, was jeder tun kann, um zu einer inklusiven Gesellschaft beizutragen, sind sich die beiden Frauen einig: Inklusion fängt bei jeder Person selbst an. Auseinandersetzung und Reflexion der eigenen Vorstellungen, Stereotypen und Bilder sind dabei wichtig, wie sie betonen. „Das ist etwas, das alle können: Anstatt sich in beurteilende und wertende Sätze zu begeben – in fragende Positionen zu gehen! Das kann jeder tun. Nicht wegschauen, sondern fragen“, schließt Waltraud Engl ab.
Mehr Infos gibt es auf: www.integrationwien.at