Gehörlosen Personen zur Weiterbildung verhelfen: Das ist das Lebenswerk von Monika Haider. In ihrem Schulungsinstitut equalizent können gehörlose Personen Kurse in Österreichischer Gebärdensprache besuchen und hörende Personen mehr über die Community in Wien erfahren.
Wer Monika Haider das erste Mal trifft, versteht sofort, warum sich ihr Gebärdenname von ihrem Lächeln ableitet. Der Zeigefinger deutet auf die Wange, ein paar Drehungen in beide Richtungen, die Mundwinkel zeigen dabei nach oben. Sie ist die Gründerin und Geschäftsführerin von equalizent, dem ersten und einzigen Schulungs- und Weiterbildungsinstitut für gehörlose Menschen in Österreich. „Wir sind so etwas wie eine Volkshochschule für gehörlose Personen“, fasst Monika Haider das Konzept zusammen.
Die Geschäftsführerin strotzt vor Lebensfreude und Warmherzigkeit. Vom ersten Moment des Gesprächs bis zum Ende des Besuchs verlässt ihr Lächeln niemals ihre Lippen. Mit einer unvergleichlichen Offenheit und Zuvorkommenheit führt sie durch das Gebäude und die Geschichte von equalizent. Hier, in den einladenden und mit Pflanzen und Bildern dekorierten Räumlichkeiten von equalizent, wird eine breite Palette an Kursen und Fortbildungsmöglichkeiten in Österreichischer Gebärdensprache (ÖGS) angeboten – angefangen bei LGBTQUIA-inklusiver Sexualerziehung für Jugendliche bis hin zu Suchtprävention und beruflichen Weiterbildungsoffensiven. „Wir haben von Anfang an eine große Themenvielfalt angestrebt, weil wir die Ersten in Österreich waren, die ein Bildungsangebot in Österreichischer Gebärdensprache aufgesetzt haben. Die Bedürfnisse und Interessen der Gehörlosen-Community sind so unterschiedlich, wir mussten an allen Ecken und Enden etwas entwickeln“, erklärt Monika Haider. Als sie equalizent vor sechzehn Jahren gemeinsam mit gehörlosen und hörenden Mitstreiter:innen gegründet hatte, schuf sie nicht nur eine neue Art von Institution, die es so vorher in Österreich nicht gab – sie erfüllte damit auch ein wichtiges Weiterbildungsbedürfnis der Gehörlosen-Community. „Die Schulbildung, die gehörlose Personen in Österreich erfahren, reicht in der Regel nicht dafür aus, sofort in weiterführenden Schulen anzudocken“, erläutert die Geschäftsführerin. „Das Problem ist, dass sie meistens nicht in ihrer Erstsprache ÖGS unterrichtet werden, sondern in deutscher Lautsprache.“ Dadurch gehen in der Kommunikation viele Informationen verloren und die Schüler:innen könnten dem Unterricht nicht immer folgen.
Monika Haider weiß viel über die Bildungsgeschichte der Gehörlosen-Community in Österreich zu berichten. Sie war nicht nur außenstehende Beobachterin, sondern hat dem Thema aktiv einen Großteil ihres Lebens gewidmet. Als hörende Person, die in einer hörenden Familie geboren wurde und in einem hörenden Umfeld aufwuchs, hatte sie in den ersten Jahren ihres Lebens kaum Kontakt zu gehörlosen Personen. Erst ihr Studium an der Sozialakademie machte sie mit der Community in Wien bekannt.
„Ich wollte mir neben dem Studium etwas dazuverdienen und habe nach einem Arbeitsplatz gesucht. Zur gleichen Zeit war im Gehörloseninstitut eine Stelle frei“, erinnert sich die heutige Geschäftsführerin. Obwohl sie damals keine einzige Gebärde in der Österreichischen Gebärdensprache beherrschte, bewarb sie sich für den Job und bekam ihn zu ihrer großen Überraschung auch. „Man hat von mir nicht erwartet, dass ich irgendwelche Kenntnisse in dieser Richtung mitbringe oder sogar später erwerben sollte. Ich konnte dort dank meiner Ausbildung in der Sozialakademie gleich mit gehörlosen Kindern und ihren Eltern arbeiten.“
„Der Oralismus war damals das Grundprinzip der Gehörlosenbildung“, schildert Monika Haider weiter. „Das bedeutet, dass alles mit der Stimme gemacht werden musste. Die Schüler:innen durften die Österreichische Gebärdensprache nicht verwenden. Stattdessen trugen sie Hörgeräte an ihren Ohren und ein Empfangsgerät um den Hals, wodurch sie die Lehrperson, welche in ein Mikrofon sprach, hören konnten.“ Hört man Monika Haider zu, entsteht ein bedrückendes Bild vor den Augen: gehörlose Kinder, die in der Schule auf ihren Händen sitzen müssen, um nicht gebärden zu können; hörende Lehrer:innen ohne Kenntnisse in ÖGS, die ihnen Lippenlesen und Sprechen beizubringen versuchen. Die Geschichten, die die Geschäftsführerin erzählt, erinnern eher an die autoritäre Erziehung des 19. Jahrhunderts als an den österreichischen Schulunterricht vor 35 Jahren.
„Die Szene hat mich stark berührt. Ich habe Lotte gleich danach gefragt, ob sie mir die Österreichische Gebärdensprache beibringen kann.“
Faszination, Neugier, Empörung und Unverständnis waren damals ständige Begleiter ihres Berufsalltags, wie die Geschäftsführerin berichtet. Ihre Zeit am Institut war Monika Haiders erste bewusste Berührung mit gehörlosen Personen und gleichzeitig der Funke, der ihr Interesse an der Community und der Gebärdensprache weckte: „Eine der Reinigungspersonen am Institut war eine gehörlose Frau namens Lotte. Eines Tage habe ich beobachtet, wie sie in einer Pause im Schulhof mit den Schüler:innen gebärdete. Die Kinder haben aufmerksam aufgepasst und es sofort aufgenommen, als sie ihnen in ihrer gemeinsamen Erstsprache verschiedene Regeln erklärte.“ Das Lächeln, das Monika Haider während des ganzen Gesprächs gezeigt hat, wird bei der Erwähnung ihrer alten Freundin ein Stück breiter. „Die Szene hat mich stark berührt. Ich habe Lotte gleich danach gefragt, ob sie mir die Österreichische Gebärdensprache beibringen kann.“ Nachdem sie ihre ersten Gebärden von Lotte gelernt hat, absolvierte die heutige Geschäftsführerin weitere ÖGS-Kurse. Daneben spezialisierte sie sich in ihrem Pädagogikstudium immer mehr auf das Thema. Und je mehr sie lernte, desto mehr AHA-Momente hatte sie und desto klarer erschienen ihr die Missstände in der damaligen Gehörlosenbildung. Also gründete sie 2004 equalizent.
Heute zählt ihr Unternehmen mehr als 60 Mitarbeiter:innen. Rund dreißig Prozent von ihnen sind gehörlos oder schwerhörig. Alle beherrschen die Österreichische Gebärdensprache. Bei equalizent sind ÖGS und Deutsch gleichberechtigte Unternehmenssprachen. Die Geschäftsführerin sieht vor allem im Bereich Arbeitsmarkt Verbesserungsbedarf und hat dementsprechend schon von Anfang an einen besonderen Fokus darauf gelegt: „Wir haben damit begonnen, Berufe aus dem Gesundheits- und Sozialbereich zu identifizieren, die demografisch sinnvoll sind und wo gehörlose Menschen anschließend einen fixen und gut bezahlten Job bekommen können. Danach haben wir Vorbereitungskurse entwickelt, die es den Menschen, die sie besuchen, ermöglichen, als Erste durch weiterführende Ausbildungen in diesem Beruf anzudocken“, beschreibt Monika Haider eines der erfolgreichsten Projekte von equalizent. „Dadurch haben wir es geschafft, neun Berufsfelder zu öffnen, in denen bis dahin keine gehörlosen Personen gearbeitet hatten.“
Doch damit ist die Arbeit nicht getan. Denn die Arbeitskolleg:innen müssen vor der Ankunft der neuen Mitarbeiter:innen sensibilisiert werden. Zu diesem Zweck bietet equalizent auch ÖGS-Kurse an, bei denen hörende Personen die Sprache lernen und die Community näher kennenlernen können. Daneben können hörende Besucher:innen in der Ausstellung „HANDS UP – Gelebte Stille“ erstmals erleben, wie es ist, einige Minuten in einer Welt ohne Geräusche zu leben. Als Geschäftsführerin eines branchenleitenden Unternehmens mit so vielen verschiedenen Angeboten steckt Monika Haider bis zum Hals in Arbeit. Sie muss immer alles im Auge behalten: Entscheidungen müssen getroffen, Pläne gemacht und in die Wege geleitet werden. Nichts bewegt sich im equalizent weiter, ohne dass Monika Haider davon weiß und es vorher genehmigt hat. Die Verantwortung für das Institut ruht alleine auf ihren Schultern. „In der Geschäftsführung gibt es eine gewisse Einsamkeit, weil man sehr oft Entscheidungen treffen muss“, verrät Monika Haider. Man kann der Geschäftsführerin förmlich ansehen, wie sehr sie damit hadert. „Ich muss mich immer wieder darauf besinnen, dass ich nicht die Freundin der Mitarbeiter:innen bin, sondern ihre Vorgesetzte. In der Regel ist es so: Die Dinge, die nicht funktionieren, kommen zu mir. Aber die Dinge, die funktionieren, kommen nicht zu mir“, führt sie weiter aus. Die Balance zwischen den beiden zu finden – das ist eine Herausforderung, welche die Geschäftsführerin jeden Tag meistert. Mittlerweile hat Monika Haider gelernt, besser mit dem Stress umzugehen. Ausgleich zu ihrem auslaugenden Arbeitsalltag findet sie im Sport. „Es gibt kaum eine Sportart, die ich nicht gerne mache. Hauptsache, ich bewege mich“, lacht sie. „Ein- bis zweimal in der Woche gehe ich zum Yoga und zweimal die Woche ins Fitness-Studio.“ Zur Arbeit fährt sie meistens mit dem Fahrrad. Im Sommer geht sie regelmäßig schwimmen, im Winter fährt sie Ski.
Außerdem versucht Monika Haider, sich nicht nur mit den Problemen im Institut zu beschäftigen: „Ich versuche mir bewusst zu machen, was alles funktioniert“, so Monika Haider. „Eigentlich bin ich ein eher positiver, fröhlich grundgestimmter Mensch. Wenn wir uns ein Glas anschauen, dann würde ich sagen, dass es nicht halb leer ist, sondern halb voll. Und wenn es nicht so ist, dann überlege ich sehr lange, wie es halb voll werden kann“, betont Monika Haider und schenkt uns das strahlende Lächeln, nach dem sie benannt wurde.
Mehr Infos über equalizent gibts auf der Website!
Fotocredits: Jolly Schwarz