Portrait: Christoph Weltin

Christoph Weltin übt einen Beruf aus, von dem viele gar nicht wissen, dass es ihn in dieser Form gibt. Er ist Lehrer im Jugenddepartement der Justizanstalt Josefstadt. Seine Schüler haben Straftaten begangen und befinden sich in Untersuchungshaft. Trotzdem ist es eine ganz normale Schule, wie er berichtet.

Lachende Stimmen am Gang. Bunte Bilder an der Wand. Ein Atlas im Bücherregal und eine grüne Tafel, die darauf wartet, beschrieben zu werden. Fast nichts deutet darauf hin, dass es sich nicht um einen ganz „normalen“ Klassenraum handelt. Sieht man genauer hin, verraten die vergitterten Fenster jedoch, dass es sich hier um keine gewöhnliche Klasse handelt. Die Schüler, die hier tagein, tagaus sitzen, haben alle eines gemeinsam: Sie sind in Untersuchungshaft in der Justizanstalt Josefstadt. Die Schule ist das Reich und der Arbeitsplatz von Christoph Weltin. Seit fünf Jahren kommt er hierher, um mit straffällig gewordenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu lernen und ihnen Wissen zu vermitteln.

Unterrichten hinter Gittern

Sein Weg in die Arbeit führt ihn durch viele verschlossene Türen. Mit einem Lächeln im Gesicht begrüßt er die Justizwachebeamtinnen und -beamten und Insassen, bis er schließlich den Klassenraum aufsperrt. Hier ist seine tägliche Arbeitsstätte. „Wir wollen nicht verstecken, was wir hier tun, wir arbeiten gut zusammen, das soll man auch zeigen und erklären. Denn die Justiz und der Strafvollzug sind sehr oft in den Medien präsent, wenn etwas Grausliches und Schlechtes passiert. 99% der Tage wird hier normal gearbeitet. Es ist eine normale Schule wie jede andere auch, nur unter besonderen Umständen“, klärt der engagierte Lehrer auf. Seine Schüler sind Rechtsbrecher, Diebe, Vergewaltiger oder Extremisten, die auf ihre Prozesse warten. Dass er einmal hier arbeiten würde, hatte Christoph Weltin aber nicht geplant, denn Lehrer wollte er nie werden. Aber wie so oft im Leben kam es anders als gedacht. Familiengründung, Vereinbarkeit von Ausbildung und Berufstätigkeit und eine absehbare Ausbildungszeit haben ihn schließlich in die Wiener Pädagogische Hochschule gebracht. Dort hat er zum ersten Mal die Freude am Unterrichten verspürt und ist noch heute glücklich über die Entscheidung, Lehrer geworden zu sein. Sein Weg führte vom Hauptschullehrer zum Förderklassenlehrer, bis er schließlich hier gelandet ist. „Ich hatte in meinem Leben immer das Glück, dass ich zirka alle zehn Jahre ein Angebot bekommen habe, und die Entscheidung, das Angebot anzunehmen, hat sich bis jetzt immer als gut herausgestellt, weil es immer eine neue Herausforderung war. Es war wieder viel Neues zu lernen.“

Viel Neues gelernt hat er auch hier in der Justizanstalt Josefstadt. Sich abzugrenzen beispielsweise. Denn nur so kann er, wie er sagt, ein guter Lehrer sein. „Es sind teilweise sehr grausliche Delikte, wegen denen die Jugendlichen hier sind – das blende ich aus. Ich bin hier Lehrer, er ist Schüler und was er getan hat, weiß ich zwar, das muss ich auch im Hintergrund berücksichtigen, aber das blende ich bewusst insofern aus, dass er hier einfach nur mein Schüler ist.“ Seine jahrelange Erfahrung in der Bewährungshilfe hat ihm dabei geholfen. „Schon damals war klar: Entweder man arbeitet professionell – denn von Mitleid haben die Leute nichts – oder man lässt es bleiben. Wenn ich Probleme mit dem Herzen habe, dann ziehe ich es auch vor, dass der Chirurg Spezialist ist, und ob er mich lieb hat oder nicht, ist mir relativ egal“, erzählt er nüchtern, um dann mit dem Nachsatz abzuschließen, dass es im Lehrberuf natürlich etwas anderes ist und er alle seine Schüler gern hat. Dass er professionell und zielstrebig arbeiten kann, ist Produkt von funktionierender Teamarbeit, wie er betont. Christoph Weltin bezeichnet sich selbst dabei als kleines Rädchen in einem professionellen Betrieb und berichtet dabei von den Justizwachebeamten mit Nerven aus Drahtseilen, die speziell für das Jugenddepartement ausgesucht wurden, der Wiener Jugendgerichtshilfe, den Psychologinnen und Psychologen, den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern und Sozialpädagoginnen und -pädagogen, sowie den Jugendpsychiaterinnen und -psychiatern. Sie alle sind im steten Austausch und kennen die Jugendlichen, mit denen sie täglich zusammenarbeiten, genau. Dieses Wissen nimmt dann auch Christoph Weltin als Lehrer mit in seinen Unterricht. Das sei für die Entwicklung der Gruppendynamik besonders wichtig.

Erzählt er außerhalb der Mauern der Justizanstalt von seinem Beruf, löst er oft Erstaunen aus. „In solchen Situationen ist es mir wichtig, diesen Aha-Effekt umzuwandeln und zu sagen: Ja, selbstverständlich gibt es das und es ist gut so, dass es das gibt.“ Innerhalb der Gefängnismauern bekommt die Schule eine andere Bedeutung, weiß Christoph Weltin. Neben dem Alltag in der Justizanstalt ist der Unterricht eine willkommene Abwechslung für die Häftlinge. Um ein effizientes Lernen möglich zu machen, achtet der Lehrer darauf, dass er nie mehr als sechs Schüler im Klassenraum hat. „In die Klasse gehen sie gerne, aber jetzt nicht, weil ich so großartig bin, sondern weil Schule auch eine Alternative zum Nichtstun ist, das muss man schon ganz klar sagen. Dann hat Schule automatisch einen größeren Stellenwert“, berichtet der bodenständige Lehrer mit einem Augenzwinkern.Um halb acht heißt es im Gefängnis: Die Schule beginnt. Besonders im Sommer ist es dem Lehrer aber wichtig, dass seine Schüler Bewegung machen, das Gehirn durchlüften und dann gut gelaunt in den Unterricht starten. Dieser läuft dann in dem System einer Mehrstufenklasse ab – vom HTL-Schüler bis hin zum Schüler mit sonderpädagogischem Status – der Bildungshintergrund seiner Schüler ist genauso vielfältig wie die Verbrechen, für die sie angeklagt sind.

„ES IST VERLOCKEND, SCHWARZWEISS-LÖSUNGEN ANZUBIETEN, WEIL ES EINFACH UND BEQUEM IST. DAMIT WIRD MAN ABER SELTEN EINEM PROBLEM GERECHT.“

 

Den Schüler dann genau dort abholen, wo er steht, und Flexibilität im Unterricht stehen dabei bei Christoph Weltin an oberster Stelle. Die Besetzung und Anzahl seiner Schüler wechselt dabei ständig. Denn die meisten der Insassen sind in Untersuchungshaft und warten auf ihren Prozess. Die ständig neue Besetzung der Klasse macht das Arbeit für ihn besonders spannend und fordernd zugleich, wie er erzählt. „Hier speziell in der Josefstadt ist es wie in einem Bienenstock – es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Lehren nur über Beziehung geht. Das heißt, ich muss ganz rasch eine Beziehung zu den Burschen aufbauen, weil sie unter Umständen auch ganz rasch wieder weg sind. Ich muss die Zeit nutzen, die sie da sind. Das ist eine Sisyphusarbeit. Kaum hat man jemanden – ist er schon wieder weg. Das ist die Kehrseite der Medaille.“ Trotzdem würde er seinen Job niemals eintauschen wollen, denn das Arbeiten mit Jugendlichen macht ihm besondere Freude. Humor ist dabei sein Schlüssel, um eine Beziehung zu den Schülern aufzubauen.

„Ein bisschen was geht immer!“

Weniger Freude bereitet es ihm, wenn er ehemalige Schüler im Klassenzimmer wieder antrifft. Besonders bei Jugendlichen, die oft rebellieren, passiert dies öfter, als ihm lieb ist. Mehr als die Hälfte sieht er in der Josefstadt wieder. Hat er es am Anfang noch persönlich genommen, dass es manche seiner ehemaligen Schüler draußen nicht geschafft haben, sieht er es heute pragmatisch und sagt lachend, dass es wahrscheinlich auch ein wenig Größenwahn ist, wenn man diesen Anspruch an sich und seine Arbeit hat. „Die Jugend ist eine schwierige Zeit, da rebelliert man und braucht ein paar Wiederholungen, bis man es kapiert hat. Ich leiste hier einen wichtigen kleinen Beitrag, zu dem ich stehe. Bildung ist einer der Wege hinauszukommen und auch draußen zu bleiben, aber es gibt keine Garantie. Ein bisschen was geht immer – das ist mein Credo. Manchmal geht es in kleineren Schritten, dann muss man es halt öfter machen“, reflektiert der Lehrer realistisch. Kommen ehemalige Häftlinge in dieselbe familiäre Situation zurück, in die gleichen Peer-Groups und finden keine anderen Perspektiven, sei die Wahrscheinlichkeit besonders hoch, dass sie wieder in denselben Strudel geraten.

Raum des Friedens

Brutale Reibereien hat es bei ihm im Klassenzimmer noch nie gegeben. Manche Diskussionen werden hitzig, aber auch hier weiß der Lehrer sich zu helfen, deeskaliert und schickt beispielsweise einen der Schüler aus dem Klassenraum. „Ich bestehe darauf, dass dieser Raum ein Raum des Friedens ist. Das ist mir wichtig. Genauso wie draußen gilt auch hier Nulltoleranz gegenüber jeder Art von Rassismus und Diskriminierung.“ Viele seiner Schüler sind schwer traumatisiert, besonders sie werden durch die Seelsorge unterstützt, Erlebtes zu verarbeiten. Ein Erlebnis, das ihm dabei im Gedächtnis geblieben ist, ist jenes von zwei verurteilten Extremisten, die den Ausstieg geschafft haben und jetzt ein normales Leben führen. „Die Welt da draußen ist bunt, und genauso sind die Probleme – die Lösungen müssen dementsprechend bunt und vielfältig sein. Es ist verlockend, Schwarz-Weiß-Lösungen anzubieten, weil es einfach und bequem ist. Damit wird man aber selten einem Problem gerecht.“

Ob er für immer Lehrer in der Justizanstalt bleiben will, weiß er noch nicht. Auch das Unterrichten im Krankenhaus würde ihn reizen, wie er berichtet. Doch den Beruf des Lehrers füllt er mit Herz und Seele aus. Das merkt man, wenn Christoph Weltin über das Unterrichten und seine Schüler spricht. „Mir wurde beigebracht, dass ich ganz genau weiß, was ich tue, warum ich es tue und wie ich es tue! Das versuche ich auch jeden Tag!“ Und das wird Christoph Weltin auch morgen wieder tun, wenn er die schwere Eisentür aufsperrt und seine Schüler zum Unterricht bittet.

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