Portrait: Kerem Sezen

Musik ist der Dreh- und Angelpunkt in Kerem Sezens Leben. Ob als Chorleiter, Sänger oder Gesangslehrer – die Musik gibt den Takt in seinem Arbeitsrhythmus an. Seit einiger Zeit leitet er den Flüchtlingschor „Voices of Refugees“, mit dem er den musikalischen Funken überspringen lassen möchte. Auf die Mitglieder des Chors genauso wie auf die Zuhörer. Wir haben ihn in luftiger Höhe, auf dem Donauturm, zum Interview getroffen.

Es war wohl der speziellste und zugleich schönste Interviewort in der Geschichte von social attitude. So außergewöhnlich der Ort unseres Treffens ist, so interessant ist auch das Gespräch mit unserem Interviewpartner, Kerem Sezen. Mit einer unglaublichen Gelassenheit schafft er es ganz nebenbei, Lebensweisheiten von sich zu geben, ohne dabei belehrend zu wirken. Viel eher spürt man die Lebensfreude und den Humor, mit dem der Musiker durchs Leben zu gehen scheint. So verpackt er den Tiefgang seiner Worte leicht und in sprachlichen Bildern, die das Gesagte greifbar und lebendig machen. Und zu erzählen hat Kerem Sezen viel, allein über die vielen Reisen um die ganze Welt, die er beispielsweise in seiner Zeit als Leiter der Wiener Sängerknaben gemacht hat, könnte er Stunden lang sprechen. Erzählt hat er auch über eines seiner Herzensprojekte, den Wiener Flüchtlingschor „Voices of Refugees“.

Musik macht glücklich und zufrieden

Den Impuls für den Chor hat die Journalistin Ursula Neubauer gegeben, die auf Kerem zugegangen ist. „Für mich war gleich klar, dass ich das machen möchte. Ich habe selbst Wurzeln, die ganz woanders sind und hatte das Glück, in so einer tollen Stadt aufzuwachsen. Ich habe immer Musik gemacht und wollte, als diese Flüchtlingsströme gekommen sind, mitmachen. Dann hat sich die Möglichkeit ergeben, in meinem Berufsfeld Leuten zu helfen. Ich kann in diesem Bereich mit viel mehr Gewicht helfen, weil ich da einfach mein Know-how habe“, fasst er seine Motivation zusammen. Bei den wöchentlichen Treffen geht es dabei aber nicht nur um das Singen. Bei den Proben entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, es wird geplaudert, gelacht, geprobt, Deutschkurse werden gesucht und gefunden und es wird gemeinsam gepicknickt. Das verdeutlicht, dass die Neuankömmlinge und die alteingesessenen Wiener viele Gemeinsamkeiten haben, die ausgeprägteste: die Liebe zum Singen.

Grenzenlose Liebe zur Musik

Die Liebe zur Musik hat Kerem Sezen schon früh entdeckt, wurde er doch in eine Sänger-Familie hineingeboren, beide Eltern haben in Istanbul an der Oper gesungen. Auf seinem musikalischen Weg haben ihn auch schon verschiedenste Instrumente und Fachbereiche begleitet. Flöte. Klavier. Singen. Dirigieren. „Wenn man von vielem was weiß, aber nichts g‘scheit, dann wird man Chorleiter“, erzählt uns der charismatische Musiker mit einem ironischen Grinser, während hinter ihm langsam die Sonne untergeht und die Stadt in ein warmes Licht taucht. Am Ende war es dann ein ganz bestimmtes Gefühl, das den Musiker angetrieben hat, immer weiterzumachen. „Ich war verliebt in das Gefühl, mit Leuten Zeit zu verbringen, die ähnlich ticken wie ich. Ich wollte einfach mit Musikern abhängen und die Welt bereisen – wenn man mir dann noch Geld bezahlt – passt“, sagt Kerem augenzwinkernd. Um seinen Traum zu verwirklichen, hat er aber auch viele andere Jobs gemacht. Mit Sommerjobs hat er sich beispielsweise seine erste Querflöte finanziert. Eine Erfahrung, die er nicht missen möchte, denn seiner Meinung nach sind gerade diese Tätigkeiten in der Jugend dazu da, um herauszufinden, was man will und eben auch nicht. Sein Ziel war immer klar: Musik machen!

„Es fällt beim Singen kein negatives Abfallprodukt ab.“

Die Sinnhaftigkeit des beruflichen Seins bricht Kerem auf ein Dreieck herunter, das in Balance gehalten werden muss. Eine Ecke steht dabei für die finanzielle Abgeltung, die man für seine Arbeit bekommt, eine für die Sinnhaftigkeit, die die Tätigkeit für einen selbst hat, und die letzte steht für die Anerkennung, die man bekommt. Ist nur eine Ecke „erfüllt“, dann ist es zu wenig, um glücklich zu sein – kann man mit seinem Beruf alle drei Ecken bedienen, dann ist man laut Kerem Sezen angekommen. Er hat dies mit dem Chorleiter-Dasein erreicht. „Singen, singen lassen und Leute anleiten – das Tolle ist, dass Singen selber ein Werkzeug ist, um sich selbst zu finden. Man beleuchtet sich immer wieder selbst: die Haltung, die Stimmgebung, die Fantasie, die man gerade hat – und gleichzeitig ist das, was man produziert, im Idealfall etwas, was andere interessiert. Musik erzeugt eine Emotion, die positiv ist, man tut sich selbst etwas Gutes und im Idealfall auch jemandem anderen, wenn man es tut – es fällt beim Singen kein negatives Abfallprodukt ab.“

„Die, die Gutes tun, sind entscheidend.“

Dieses Glücksgefühl will er für alle Beteiligten auch mit dem Chor „Voices of Refugees“ erzeugen und damit ein ganz anderes Gefühl ersetzen. Die Angst, die er in unserer Gesellschaft spürt. „Die Menschen flüchten, weil sie um ihr Leben bangen. Sie haben Angst und fliehen in ein Land, wo die Leute, die hier leben, auch Angst haben. Diese Emotion ist der Motor für beide. Die wollen genauso überleben wie wir hier auch – wir haben wiederum Angst, dass uns Luxus verloren geht. Dabei ist alles eine Sache von: Bist du zur richtigen Zeit am richtigen Ort? Wenn du zum richtigen Zeitpunkt am falschen Ort bist oder zur falschen Zeit am richtigen Ort – es ist beide Male falsch. Wien ist ein super Ort aber vor 75 Jahren sind hier Bomben reingeflogen – da hatte jeder eine Scheißangst. Man darf nicht vergessen: Die Geflüchteten wissen nicht, wie ihr Leben weitergeht. Wenn du dem Blatt seinen Baum nimmst, dann fliegt es nur noch und kann nicht mehr mitsteuern. Es passiert, was passiert, und du kannst nicht mitsteuern, ob du hier bleibst oder abgeschoben wirst, wie dein Leben weitergeht. Du wolltest nur weg von dort, wo du warst“, fasst der Musiker die Flüchtlingskrise und auch die kommenden Herausforderungen zusammen. Er selbst lebt nach dem Prinzip „leben und leben lassen“. Verpflichtend einige Zeit in einem Entwicklungsland zu helfen, fände er jedoch sinnvoll für jeden Menschen – um am Boden zu bleiben und Relationen zu setzen. Er selbst hat diesen Unterschied bereits gesehen, als er nach seiner Zeit bei den Sängerknaben durch Indien gereist ist. Aber auch während seiner aktiven Zeit hat er viele Länder bereist und sich intensiv mit verschiedenen Kulturen auseinandergesetzt. „Die Leute sind alle gleich – sie haben alle dieselben Probleme und Freuden. Sie wollen alle essen, trinken, ein Dach über dem Kopf, arbeiten und ihre Familie versorgen. Darauf baut alles auf und wenn diese Bedürfnisse abgedeckt sind, dann wollen wir mehr.“ In der Angst, diese Bedürfnisse nicht mehr befriedigen zu können, und dem Überlebensinstinkt, der uns allen innewohnt, sieht er den Grund, wieso Menschen so oft unter Generalverdacht gestellt werden. Mit dem nüchternen Nachsatz, dass es mehr über die Menschen und ihre Ängste aussagt als über jene, die geflüchtet sind. Dabei findet er es essenziell, dem „Bösen“ nicht auszuweichen. Das, was schlecht läuft, zu kennen, benennen und dagegenzuhalten. Mit dem Impuls, die Mechanismen, die verwendet werden, zu erlernen und andersrum anzuwenden. Das Negative ins Positive umzupolen.

„Das, was du gibst, kriegst du zurück“

Aber klagen, ohne auch eine Lösung parat zu haben, das würde nicht zum Chorleiter passen, soviel wissen wir auch nach unserer kurzen Zeit mit ihm. Während sich sein Blick immer wieder in den Straßen Wiens verliert und er zur einen oder anderen Ecke eine Anekdote erzählt, fasst er die „Lösung“ der genannten Probleme zusammen. „Im Idealzustand sollte jeder Mensch für sich so die Verantwortung übernehmen, dass er liebevoll in Gedanken, Taten und Worten mit sich selbst umgehen lernt. Viele Leute gehen mit so vielen Angstgedanken durchs Leben. Ich sehe das beim Singen, zehn Prozent meiner Arbeit macht das Singen aus, neunzig Prozent ist das Arbeiten an Körper und Geist.“ Zu oft bekommen wir seiner Meinung nach in unserer Gesellschaft gesagt, dass wir etwas nicht können. Singen zum Beispiel. Grundliebe zu sich selbst sieht er als Schutzschild, um sich von diesen destruktiven äußeren Einflüssen zu schützen. Wer mit sich selbst nicht im Reinen ist, sich hasst und mit negativen Leitsätzen durchs Leben geht, hindert sich selbst daran, weiterzukommen. Wie kann man anderen Gutes tun, wenn man es sich selbst nicht tun kann? Darin sieht er eine Kettenreaktion – tue ich etwas, was mir gut tut, dann entsteht die Chance, dass es sich multipliziert, wenn ich es mit anderen teile. „So ist Voices of Refugees: Die Leute singen, haben Spaß daran und singen auch traurige Lieder aus ihren Ländern. Wir machen Mozart, Jodler, Jazz und Lieder aus dem Christentum, dem Judentum und dem Islam und aus anderen Ländern, aus denen sie kommen. Da müssen die Österreicher dann auch auf Farsi singen. Wenn man etwas nicht kann, hat man Angst zu scheitern, fürchtet, dass es nicht geht. Da ich aus zwei Kulturen komme und immer schon Musik gemacht habe, und mir die Angst – zumindest in diesem Bereich prinzipiell fehlt – kann ich gut vermitteln“, erzählt der Chorleiter aus dem Probenalltag.

Die Saiten des Lebens selbst anschlagen

Der Musiker ist überzeugt: Was man aussendet, das kriegt man auch wieder zurück, und führt das Gesetz der Resonanz aus: Man muss lernen, wie man die Saiten selbst anschlägt. Aber wie geht man mit Sachen um, die einen „gaga“ machen? Auch darauf hat er eine Antwort:  „In Wien gibt es den Spruch: Bevor es mich aufregt, muss es mir scheißegal werden.“ Auch dabei sieht er jeden selbst als den Schmied des Glückes und beschreibt das Leben wie einen mehrteiligen Ikea-Kasten. Jede Erinnerung, jedes Gefühl, jede Freude, die Familie, die Arbeit, der Ärger füllen eine Schublade. Man selbst entscheidet aber, wie oft man die Schublade öffnet und sich dem Inhalt widmet. Seine Lösung: Die „ärgerlichen“ Schubladen öfter mal bewusst schließen und seine Zeit nicht jenen Dingen widmen, die man nicht ändern kann. „Du entscheidest, wo du deine Aufmerksamkeit hinschickst – in allem Guten ist das Schlechte, in allem Schlechte ist das Gute.“

Angetrieben durch musikalische Glücksgefühle

Ihn selbst hat das Glücksgefühl beim Musizieren stets angetrieben. Jetzt will er einen Rahmen schaffen, in dem sich die Teilnehmenden wohl und geborgen fühlen, um dieses musikalische Glücksgefühl auch zu empfinden. Gemeinsam singen, Ziele erreichen und das Glück gemeinsam zu potenzieren, ist dabei die Devise. „Das Andrehen dieser Spirale, die sich nach oben bewegt, ist das, was ich als Chorleiter mache.“ Und das tut er Woche für Woche, Tag für Tag mit viel Euphorie, Reflexion und einer Menge guter Laune.

Wer mehr über den Chor „Voices of Refugees“ erfahren möchte, sollte auf Facebook vorbeischauen.

 

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  • Mag. Helga Schmid
    2. März 2018

    Ja, es ist toll, mit Kerem zu arbeiten. Wir im Bachchor haben seit einiger Zeit dafür die Möglich-keit bekommen, was uns als Chor und einzeln echt weiterbringt.
    Alles Gute weiterhin, Kerem, besonders aber mit dem „internationalen“ Chor der Refugees, denn von anderen Kulturen und Menschen kann man immer viel lernen und profitieren!
    Helga Schmid

    Reply

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